Am Mittwoch bin ich mit meinem Rad vor dem Fernseher gestürzt. Ich wollte sicher indoor fahren. Das erwies sich echt als trügerisch und sollte eine Lawine nach sich ziehen, an deren Ende nichts anderes als ein ganz großer Sieg auf mich warten sollte. Deswegen habe ich das relativ entspannt gesehen. Nach außen habe ich fürchterlich geflucht. Nach innen musste ich die ganze Zeit lachen. Es hätte alles viel schlimmer kommen können!Aber von vorne. Ich sitze auf meinem Smart-Trainer. Das ist solch ein Ding, wo man sein Hinterrad aus dem Rennrad nimmt, das Rennrad in einer Maschine befestigt, woraufhin man alle Strecken dieser Welt am Computer fahren kann. Da passiert ja nichts. Ich fahre also vor mich hin, bin gerade dabei, mich aufzuwärmen, als es richtig hörbar knackt. Jetzt habe ich etwas Schlagseite nach rechts, will gerade anhalten und nachschauen und kippe sogleich mit Rennrad und Rollentrainer nach rechts. Aus der Situation komme ich mit festgeklickten Schuhen jetzt nicht mehr raus. Das ist mir sofort klar.
Wir alle kennen das. Wenn das Unheil in Gang gesetzt wurde, vergeht die Zeit plötzlich wie in Zeitlupe. Ich habe also Zeit, darüber nachzudenken, dass mein Kopf jetzt bitte nicht auf die nahende Tischkannte knallen sollte, Auch wäre es nicht gut, sich mit der Hand abzustützen, habe ich mir die doch bei einigen Stürzen outdoor schon gebrochen. Wieder einmal vier Wochen Gips? Nein! Das will ich nicht. Dann würde ich wohl auf die Schulter knallen. Das ist auch nicht schön. mein Rad würde dann ja auch volle Lotte aufs Schaltwerk fliegen. Das würde nicht billig. Man muss ja auch im Katastrophenfall immer die wirtschaftlichen Konsequenzen bedenken.
Im Fallen entscheide ich mich für einen Kompromiss. Ich würde also meine Hand kurz und leicht zum Abstützen nehmen und dann kontolliert meine Schulter und das Fahrrad auf den Fußboden knallen lassen. Das mache ich auch so. Die Tischkante umkurve ich dabei sanft und reiße mit der linken Hand den kompletten Tisch um, damit ich nicht darauf falle. Geschafft! Ich liege mit Rad und Smarttrainer auf der Seite und sehe im TV meine Strecke und meine Trainingsdaten. Ich muss ja in dieser Stellung verharren, sind doch meine Füße in den Pedalen fixiert. Ich sehe meine Wattzahl und muss in mich hinein grinsen. Stop! Bevor du lachst, guckst du erstmal, ob du dich nicht ernsthaft verletzt hast. Schulter tut weh, aber nicht, als ob etwas gebrochen ist. Ich diagnostiziere mir eine Schulterprellung. Meine Mundwinkel ziehen sich etwas weiter nach oben. Meine rechte Hand tut weh, ich schaue sie mir an, bewege alle Finger, sehe nichts auffälliges, diagnostiziere mir eine verstauchte Hand und will gerade lauthals lachen, als ich Blut auf dem Fußboden sehe. Das tropft aus meinem rechten Mittelfinger. Ich vernehme einen kleinen Schnitt. Jetzt kann ich endlich lachen. Es ist nichts schlimmes passiert.
Ich brauche danach noch gefühlte zehn Minuten, mich aus dieser Position zu befreien. Nun checke ich mein Rad. Die Schaltung funktioniert nicht mehr. So ein Mist!!! Ein Schaltwerk ist verhältnismäßig teuer und noch schlimmer, in diesen Zeiten nicht immer und überall sofort verfügbar. Am Smarttrainer ist der Schnellspanner herausgebrochen. Bis vor zwei Jahren habe ich sowas immer selbst repariert. Weiß nicht. Meine Feinmotorik will das eigentlich nicht mehr. Jetzt tut auch noch die rechte Hand furchtbar weh. Ich bin ja eine faule Sau geworden, lasse mich beim Radfahren verpflegen und nutze seit zwei Jahren eine Fahrradwerkstatt meines Vertrauens. Man gibt ja seine Rennmaschine nicht gerne aus der Hand. Mit Troche habe ich aber in den letzten zwei Jahren gute Erfahrungen gemacht. Die sind freundlich, kompetent, schnell und bezahlbar.
Ich darf ja jetzt nicht viele Tage ohne Training bleiben, weil ja sonst meine Gehstrecke wieder auf einige Meter zusammen schrumpft. Sich die Kilometer dann wieder zu erkämpfen ist unglaublich mühsam. Natürlich habe ich noch mein hypergeniales Giant-Propel-Aero Rennrad. Das fahre ich aber nur im Sommer und draußen. Da bin ich prinzipientreu. Das gemütliche BH-Quartz, mit dem ich gerade gestürzt bin, ist für den Winter. So ist es! So muss es sein! So muss es bleiben!
Wie kriege ich das Rad jetzt schnell nach Hameln zu Troche? Ich gehe sofort zur Bushaltestelle, der Bus ist fast leer, ich passe gut mit meinem Rad rein. Super! Geschafft! Nach einer halben Stunde stehe ich im Fahrradladen, erzähle von meiner Diagnose des kaputten Schaltwerks, schiebe die Hoffnung nach, dass es ja vielleicht nur das Schaltauge ist, erzähle kurz, dass es günstig sein muss, weil ich ja sonst verhungere. Der braucht ja nicht wissen, dass ich auf dem Rad verpflegt werde. Das würde ja nun auch nicht gehen. Ich fahre ja mein Sommerrad nur im Sommer. Tränen schießen in meine Augen. Hilfe! Ich würde wirklich verhungern. Jetzt setze ich mein Poferface auf. Die Werkstatt darf meine Verzweifelung nicht bemerken. Ein guter Verkäufer kann so etwas ausnutzen und schwupps ist man ein Vermögen los. Herr Troche lacht, sagt mir, dass sie das schon hinbekommen. Ich lache auch und fahre mit dem Bus nach Hause.
Schon am nächsten Tag bekomme ich den Anruf vom Fahrradgeschäft. “ Herr Rode, es ist nur die Kette verbogen. Wie haben Sie denn das geschafft?“ Ich antworte:“ Das weiß ich auch nicht. Doch ja, irgendwie logisch. Die Kette war ja eingeklemmt. Sehr gut.“ Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass sie mir eine neue Kette montieren. Ich habe zwar noch zwei Ketten hier zu Hause, bin aber Grobmotoriker und außerdem faul. Das lasse ich mir doch nicht entgehen, dass mir jemand eine neue Kette montiert. Einen weiteren Tag später, kommt der Anruf, dass ich mein Rad wieder abholen könnte.
Och, da nehme ich doch wieder den Bus. Das ist praktisch. Man wird gefahren, braucht am Rad nichts abmontieren und hat Platz. Ich steige an der Haltestelle „Deisterstrasse“ aus. Nun muss ich zu dem Kilometer, den ich in Aerzen zur Haltestelle gegangen bin noch die 200 Meter zu Troche schaffen. Ich merke jetzt, dass ich mich drei Tage nicht ausgepowert habe. Mein Immunsystem ist langsam wieder auf MS gepolt. Ich ziehe mein rechtes Bein nach. Die 200 Meter sind echt lang. Egal! Gleich habe ich mein Rad wieder, setze mich in den Bus, und gut ist das! Bei Troche bekomme ich mein Rad wieder, zahle rund sechzig Euro, habe nun eine neue Kette samt Montage, was ich sehr günstig finde, zumal ich ja nun noch zwei jungfräuliche Ketten zu Hause habe. Es ist immer gut, wenn man in schlechten Zeiten gut ausgerüstet ist. Ketten sind in der Inflation wertstabil. Ketten sind mein Gold. ich freue mich einfach nur.
Am Bahnhof will ich in den Bus steigen, der ist aber zu voll. Wo ich mit meinem Rad stehen könnte, sind schon zwei Frauen mit Kinderwagen. Ich habe ein sonniges Gemüt und nun wieder ein Fahrrad aber keinen Helm dabei und keine Schuhe mit Klickplatten. Da ich meine Füße nicht Spüre, kann ich ohne die nicht fahren. ´Watn nu?´, denke ich mir. Ich könnte jetzt hier immer eine Viertelstunde auf den folgenden Bus warten, bis einer frei genug für mich und mein Rennrad ist, oder ich könnte das Rad als Rollator nutzen, mich darauf stützen und schon den einen Kilometer bis zur Papenstraße gehen. Das mache ich natürlich, ziehe mein rechtes Bein immer mehr nach, stürze aber nicht, weil ich mich ja auf mein Rad stütze. Das ist eine sehr geile Kombination. Auch an der Papenstraße ist der Bus zu voll. Ich gehe also über die Weserbrücke und versuche es am Brückenkopf erneut. Wieder ist der Bus zu voll, letzter Schultag, ich dachte, es seien schon Ferien… Man kann sich ja vorher informieren und ein Auto nehmen. Dann wird es aber kein Abenteuer. Das war jetzt eins. Ich habe jetzt richtig gute Laune, bin ja schon zwei Kilometer gegangen, voll im Arsch aber unendlich stolz auf geleistetes. Also weiter! Klüthbahnhof!!! Wieder ist der Bus voll. Ich schiebe mein Rad hinauf zu Fort Luise. Wieder ist der Bus voll, bin aber schon drei Kilometer gegangen!!! Ich komme langsam in einen Flow, in einen Tunnel, wo es nur noch vorwärts geht. Niemand kann mir etwas anhaben! Ich bin jetzt der König der Athleten! Ich fluche vor mich hin, wie ich es früher getan habe, wenn der Trainer zehn 200er unter 26 Sekunden mit 200m Gehpause angeordnet hat, wie ich zuletzt geflucht habe, als ich bei der Tour de France Gickel-Tour im strömenden Regen den Schlussanstieg der Königsetappe geschafft habe. Mir fallen dann die tollsten Flüche ein, über die ich innerlich sehr lachen muss, was mich dann motiviert, immer weiter zu machen. Zum Glück hört mich dabei ja niemand und wenn doch? Scheißegal!!!
Ich könnte jetzt irgendjemanden anrufen und mich für die letzten zehn ansteigenden Kilometer nach Hause abholen lassen. Nein! Das bin nicht ich! Ich bin der Idiot, der in seiner Kindheit zu viel Rocky-Filme gesehen hat. Jetzt geht es runter zur Wangelister Kapelle. Ich setze mich aufs Rad, brauche ja nicht kurbeln, lasse meine Füße baumeln und überbrücke die 300 Meter mit einem Hui!!! Danach geht es nur noch bergauf. „Weiter! Reiß dich zusammen, du Idiot! Die zehn Kilometer wirst du noch schaffen. Du hast schon drei geschafft! Zehn weitere sind nichts! Du Lusche! Zieh dir ein Kleid an!!“, höre ich mich schreien, muss lachen, werde zum Glück vom Lärm der B1 neben mir übertönt. Das ist jetzt genau mein Ding! Mein Kampfgeist ist geweckt! Niemand wird mich besiegen, auch die folgenden zehn Kilometer nicht. falls doch, lasse ich mich halt abholen. “ Das tust du nicht! Schieb gefälligst weiter! Quäl dich!“, schreie ich mich an und muss wieder lachen.
Ich bekomme Hunger, habe ja ein Rad dabei, aber wo bleibt die Verpflegung? Die kommt nicht! „Weiter geht das! Stell dich nicht so an!!! Essen gibt es in Aerzen.“ Da komme ich pünktilich zum Wochenmarkt an. Vielleicht komme ich sogar eher an. Ich bin schon in Groß Berkel. Nach Aerzen sind es nur noch vier Kilometer. In einer Stunde startet der Wochenmarkt. Ich gieße mir meinen Rest aus der Powerrade-Flasche in die trockene Kehle. „Weiter! Wir sind hier nicht aufm Jahrmarkt! Reiß dich zusammen!“ Mittlerweile ziehe ich mein rechtes Bein nicht mehr nach. Ich gehe ganz normal. Ich gehe sogar immer schneller, habe ja schon den Geschmack vom leckersten Butterkuchen der Welt im Kopf. Gleich bin ich bei Hartmut. Dann ist die Schinderei vergessen! Dann ist Siegerehrung! Dann gibt es Kuchen! „Das machst du richtig gut! Du hast das Ding im Sack! Weiter so! Die Verfolger sind weit hinter dir! Der Rest ist ein Triumphzug!!!“, lobt und motiviert mich mein innerer Coach.
Jetzt bin ich oben an der Überführung der B1, kann mich wieder aufs Rad setzen und gut 500m zum Aerzener Friedhof rollen. Ich mache mich ganz klein, lasse die Beine baumeln und komme auf 50 km/h. Mein innerer Trainer lobt mich für die aerodynamische Position. Ich setze meine tauben Füße auf die Pedalen und trete noch die restlichen 500m zum Marktplatz. „Alter! Was geht denn hier ab!Was machst du denn jetzt? Fantastisch!“, höre ich meinen Coach schreien. Ihr seht, ich bin nicht mehr Herr meiner Sinne. So muss das in Extremsituationen sein. Das ist ja gerade mein persönlicher Everest, den ich hier bezwinge!
Ich bin eine Viertelstunde zu früh beim Markt. Zum Glück ist Doreen mit dem Fischwagen schon da, versorgt mich rasch mit zwei Brötchen mit mildem Matjes-Salat. Einen Hauptgang hatte ich nicht erwartet, aber durchaus verdient. Jetzt kommt Hartmut mit dem Kuchen um die Ecke, baut seinen Stand auf und platziert vor seinem Bäckerwagen eine Bierzelt-Garnitur. Super! Endich sitzen und Kuchen zum Nachtisch. In lustiger Runde berichte ich von meinen dreizehn Kilometern Fußmarsch, meiner Heldentat, ziehe einen Kilometer wieder ab, den ich ja gerollt bin, schiebe mir köstlichen Kuchen rein. Nach zwei Stunden ging es dann stolpernd die restlichen 800 Meter bergauf nach Hause.
Ich habe wieder die Vision von einem Triathlon oder einem Langstreckenlauf. Ich muss auch gerade wieder lachen. Wer verpflegt mich denn dann? Essen bekommt man nur auf dem Rennrad! Deswegen fahre ich Rennrad. Ich bin ein fauler Fresssack! Nichts ist schöner, als hunderte Kilometer im Rennsattel zu sitzen und dabei gefüttert zu werden. Das beste: Du nimmst dabei nicht zu! Ich schaufele täglich etliche tausend Kalorien in mich rein, schlemmere die schönsten Köstlichkeiten, bin einfach nur glücklich und rolle überall rauf und runter. Es gibt sicher kaum einen härteren Sport als den Radsport. Es gibt aber auch nichts, was mich glücklicher macht. Oder? Ein Triathlon? Einen Langstreckenlauf? Vor MS war ich Leichtathlet, war ich Sprinter. Alles hat seine Zeit. Diese hier ist einfach wunderbar! Dreizehn Kilometer am Freitag dem 13. gegangen! Wow! Bald tun die Prellungen nicht mehr weh… Das Fahrrad ruft!
Lieber André, du schreibst einfach sooo genial, dass man meint, alles genauso just in dem Moment mitzuerleben. Respekt vor deiner Leistung!!!! 13 km Rad schieben -naja eig „nur“ 12 – wäre auch für einen nicht MS-Erkrankten eine Herausforderung. Ich kann beim Fluchen und Motivieren so mitfühlen. Und die Königsetappe auf der Gickeltour im strömenden Regen war meine bisher größte Challenge für den inneren Schweinehund. Was hab ich da innerlich geflucht und versucht mich zu motivieren, alles aber still und leise. Wollte ja die Mitleidenden nicht noch mehr runterziehen. Da hatte jeder sein kleineres oder größeres Päckchen zu tragen. Und ich ziehe meinen Hut vor Ralf, Martin und dir !!!!! Mein allerallergrößter Respekt!!
Eine Fanin 🙂
Danke 🙂 Das ist lieb!