Kontrovers, oder? Was sollte es für Gründe geben, eine degenerative Krankheit zu lieben? Um eines klarzustellen: Ich würde eine Million geben, um wieder gesund zu sein. Nützt aber nichts. Vielleicht würde eine Plasmapherese helfen, aber auch da ist der Erfolg ungewiss. Zum ersten Mal ist mir der Vorteil von Krankheiten bewusst geworden, als eine Freundin sagte „Als Kranke werde ich nicht verlassen“. Ist das so? Zumindest glaubt sie das. Ihr Körper wird wahrscheinlich an der Krankheit festhalten, um ihre Beziehung zu bewahren. Sekundärer Krankheitsgewinn nennt man das. Äußere Vorteile aus Symptomen. Hey, bei mir gibt es sowas nicht. Wirklich?
1 – Ich genieße die Aufmerksamkeit
Wenn ich neue Leute kennenlerne, ruhen viele Blicke auf mir, vor allem wenn ich im Rollstuhl geschoben werde. Der Arme. Viele bieten sich an, mir was zu holen, wollen mir nach einem Sturz aufhelfen. Bekomme ich sonst keine Aufmerksamkeit? Klar, aber deutlich weniger.
Ich habe die Wahl: Bekomme ich ohne Krankheit genug Aufmerksamkeit, verringern sich meine Symptome. Sexy, oder? Ich brauche keine MS, um im Mittelpunkt zu stehen.
2 – Ich kann mich vor unangenehmen Sachen drücken
Danke MS. Es steht der Verwandtschaftsbesuch bei Tante Erna an. Die lästert mehr als Else Kling und müffelt wie eine Biogasanlage. Kein Bock, aber wenn ich die MS vorschiebe, wird keiner daran zweifeln. „Michael ist schon arm dran, kann man nicht mit rechnen, dass er kommt.“ Das ist bequem und passiert oft unbewusst. Droht eine unangenehme Situation, kann ich kaum laufen. Eigentlich blöd, oder? Ich weiß mittlerweile, dass ich die Wahl habe. Ich kann absagen, weil ich einen freien Willen habe. Eine Krankheit brauche ich dafür nicht. Eine Chance, Krankheitssymptome zu reduzieren.
3 – Ich genieße finanzielle Vorteile
Hey, wegen meiner Behinderung erhalte ich fünf Tage Urlaub mehr, einen Steuerfreibetrag und quasi kostenlose Fahrt in Regionalbahnen. Klasse, oder. Zunächst habe ich gedacht, nimm die Vorteile dieser Krankheit mit, Nachteile gibt es genug. Ich kenne aber Leute, die jeglichen staatlichen Vorteil abgelehnt haben, um keinen sekundären Gewinn zu schaffen. Das ist einleuchtend. Ansonsten kann man den Job zu einem mit mehr Geld und Urlaub wechseln. Eine Wahl hast du IMMER!
Wo siehst du deinen sekundären Gewinn, oder gibt es keinen?
Lieber Michael, interessant, was Du schilderst und auch Deine Frage: mein Körper hat mich gezwungen, mich nachhaltig um mich selbst zu kümmern. Hatte ich nicht drauf, immer gerne für andere und Hauptsache von mir weg.
Ist oft schwer, hatte professionelle Hilfe, hat vieles angestoßen und nun bilde ich mich weiter, um mein Interesse und meine (entdeckten) Neigungen mit meinem Beruf zu verbinden. Das‘ schön!
Alle guten Wünsche für Dich und Deine MS, Jush
Danke, liebe Jush.
Ich sehe meinen sekundären Gewinn darin mich wesentlich mehr anzustrengen um etwas zu erreichen. Ich hatte in meiner beruflichen Zeit extrem viele Arbeitstellen ohne vom Arbeitgeber gekündigt zu werden. Jedes Mal wenn mir etwas nicht passte gab ich meine Kündigung ab. Nach „Erreichen dieses Krankheitsstatus (100 GdB, „G, aG, H und B“ – Betroffene kennen sich aus) versuche ich jede Arbeit (klar, nur Minijob) zu behalten solange sie nicht für mich unmöglich ist. Also spreche ich hier von größerem Ehrgeiz. Das ist mein Plus mit dieser komischen MS.
Super Einstellung, Thorsten.